- Sozialpolitik als Reform des Sozialstaats
- von Professor Dr. Gerhard D. KleinhenzI. Von der Ausgestaltung zur Reform des SozialstaatsSozialpolitik als Politik zur Lösung sozialer Probleme war in Deutschland in der neuzeitlichen Tradition aus der Reaktion des Staates auf die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts entstanden und vorrangig auf die Verbesserung der Lebenslagen der Arbeitnehmer ausgerichtet. Die Wirtschaftsordnungskonzeption der ⇡ Sozialen Marktwirtschaft hatte nach dem Zweiten Weltkrieg Sozialpolitik (in diesem Verständnis) als Bestandteil der Wirtschaftsordnung und der Ausgestaltung des Gesellschaftssystems integriert. Die Soziale Marktwirtschaft konnte und sollte nach den Vorstellungen ihrer geistigen Väter die historische soziale Frage überwinden und auf der Grundlage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Wettbewerbsordnung ein System sozialen Schutzes und Ausgleichs ermöglichen. Soziale Marktwirtschaft sollte somit die gesellschaftlichen Ideale der Freiheit und der Gerechtigkeit vereinen. Dies schien durch das Anknüpfen an der Bismarck'schen Sozialversicherung (⇡ Bismarck'sche Sozialversicherungspolitik) am ehesten erreichbar. Die beitragsbezogene soziale Sicherung im Rahmen selbst verwalteter öffentlich rechtlicher Institutionen konnte durch ein ausgeprägtes wirtschaftliches Leistungsstreben breitester Schichten der Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland zu einer dynamischen Lebensstandardsicherung entwickelt und durch die wohlfahrtsstaatliche Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums (Sozialhilfe als Rechtsanspruch) ergänzt werden.Die praktische Umsetzung der Ordnungskonzeption der Sozialen Marktwirtschaft war in den vier Jahrzehnten westdeutscher Entwicklung zunächst durch ein weitgehend stetiges und dynamisches Wirtschaftswachstum getragen. Das verfassungsmäßige Sozialstaatsgebot, die Gesetzmäßigkeit der Konkurrenz der Parteien um Wählerstimmen und die kollektiven Arbeitsbeziehungen (⇡ Tarifautonomie) führten zu einer v.a. vom Wachstum der sozialpolitischen Handlungsmöglichkeiten bestimmten Expansion der Sozialpolitik in Bezug auf die erfassten Personengruppen, die Gegenstände der sozialen Absicherung (aktive ⇡ Arbeitsmarktpolitik, Pflege), die Standards und das Ausmaß der Absicherung. Diese Expansion der Sozialpolitik hatte bis Mitte der 70er Jahre die Sozialleistungsquote auf rund ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes ansteigen lassen und eine breite Vorstellung von einem „Besitzstand“ an sozialen Errungenschaften begründet. Von diesem Stand der Sozialpolitik waren auch nach den Wachstumsschocks der Ölpreiserhöhungen Anfang und Ende der 70er Jahre, nach der Erfahrung einer Persistenz und eines Aufschaukelungsprozesses der Arbeitslosigkeit sowie nach enttäuschten Hoffnungen auf eine ausgleichende Fiskalpolitik zur Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes nur marginale Abstriche politisch realisierbar. Die Steigerung der Beschäftigung (aus Zuwanderung) in den 80er Jahren hatte zudem mit leicht gedämpfter Sozialleistungsquote eher eine verminderte Dringlichkeit für ein grundlegendes Umsteuern vermuten lassen. Ungeachtet der Systemzusammenhänge einer beitrags- und umlagefinanzierten dynamischen Sozialversicherung wurden angesichts der auf hohem Niveau verharrenden Arbeitslosigkeit vielfältige Möglichkeiten des sozial begünstigten vorzeitigen Übergangs der älteren Arbeitnehmer in den Ruhestand (⇡ Vorruhestand) geschaffen und im Konsens der Sozialpartner genutzt.Im Prozess der Wiedervereinigung haben Sozialpolitik und sozialstaatliche Institutionen ihre besondere gesellschaftspolitische Leistungsfähigkeit in einer historisch einmaligen Situation erwiesen. Allerdings zerstoben die Träume von einem kurzfristig erreichbaren Wirtschaftswunder in den neuen Bundesländern schnell und der Aufholprozess Ostdeutschlands erlahmte. Damit wurden jedoch die wirtschaftlichen Grundlagen der Sozialpolitik sowie die Grenzen der Belastbarkeit und der Tragbarkeit des realisierten Sozialleistungsumfangs für wirtschaftliche Wertschöpfung und für Beschäftigung am Standort Deutschland unübersehbar offen gelegt. Zudem wurden nun die Auswirkungen der demographischen Entwicklung für die Sozialpolitik in Deutschland deutlich, so dass sich erstmals im öffentlichen Bewusstsein ein breiter Grundkonsens für die Notwendigkeit einer Reform des Sozialstaates gebildet hat.Die Arbeit der Expertenkommissionen um Hartz (⇡ Harz-Kommission), Herzog (⇡ Herzog-Kommission), Rürup (⇡ Rürup-Kommission), Süßmuth und andere sowie die ⇡ Reformagenda 2010 der Bundesregierung können wohl erst als Einstieg in einen länger dauernden Prozess angesehen werden, in dem der Sozialstaat für die demographische Entwicklung und für den globalen wirtschaftlichen Wettbewerb zukunftsfähig gemacht werden muss. Zwar werden die Probleme der Verbesserung der Lebenslagen gesellschaftlich schwacher Personengruppen und der bestmöglichen Ausgestaltung der Systeme sozialer Sicherung auch in Zukunft die spezifische sozialpolitische Perspektive bleiben. Auf absehbare Zeit wird aber Sozialpolitik in Wissenschaft und Praxis vorrangig von den Problemen der Reform des Sozialstaates bestimmt sein.II. SozialstaatskriseIn der öffentlichen Debatte findet sich bei Anhängern und Gegnern einer sozialen Ausgestaltung der Marktwirtschaft gegenwärtig übereinstimmend die Diagnose einer Krise des Sozialstaats. Allerdings beruht diese Einschätzung bei näherer Betrachtung auf einer Vielzahl unterschiedlicher Wertvorstellungen und Sachzusammenhängen. Unabhängig von der normativen Einstellung zum Sozialstaat wird man die Diagnose einer grundlegenden Sozialstaatskrise angesichts der gegenwärtigen und absehbaren Finanzierungsprobleme nicht mehr zurückweisen können. Die verbreitete Diagnose einer existenziellen Krise des deutschen Sozialstaats ist zudem v.a. daher zutreffend, weil sich die Werthaltungen in der Bevölkerung verändert haben und der übergreifende Konsens für ein nachhaltiges Streben nach „sozialem Fortschritt“ bei den Regierungs- und Oppositionsparteien, bei den Sozialpartnern und in der „öffentlichen Meinung„ nicht mehr gegeben ist.Die aktuelle Krise der sozialen Sicherungssysteme ist v.a. durch eine lange Zeit vernachlässigte Fehlentwicklung im Verhältnis von Ausgaben und Einnahmen aus Beiträgen regulärer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung begründet. Die Sozialunion im Zuge der Wiedervereinigung führte infolge des unzureichenden Aufholprozesses bei Beschäftigung und Wachstum zu politisch bestimmten Belastungen in allen Sicherungsbereichen. Die zur Begründung der Reformen immer wieder herangezogenen Altersstrukturverschiebungen (⇡ Altersaufbau) spielen bislang eine eher untergeordnete Rolle für die Finanzprobleme der Sozialversicherung (infolge der gestiegenen Lebenserwartung).Neben den aktuellen Problemen einer Stabilisierung der Finanzsituation der Alters-, Gesundheits- und Pflegeversicherung und einer Begrenzung der Beitragssatzerhöhungen wurden erst jetzt die seit Mitte der 70er Jahre absehbaren Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die umlagefinanzierte Sozialversicherung voll in den Focus des öffentlichen Bewusstseins gerückt.Die Verschlechterung des Verhältnisses von Aktiven zu Rentnern im Verlauf des zweiten und dritten Jahrzehnts (Höhepunkt voraussichtlich in den Jahren 2037/38) würde nach bisherigem Recht allein für die Alterssicherung bislang für unvorstellbar gehaltene Beitragsbelastungen mit sich bringen. Von den Medien wird oft schon ein Krieg der Generationen beschworen.Basis der deutschen sozialen Sicherung und ihrer Umlagefinanzierung über lohnbezogene Beiträge ist die Entwicklung von Beschäftigung und Löhnen. Eine mindestens phasenweise moderate Lohnpolitik der Tarifparteien und ein Abbau übertariflicher Entlohnungsbestandteile (Minderung der Wage Gap) konnten angesichts der schockartigen Anhebung der Arbeitseinkommen in den neuen Bundesländern und des (auch vereinigungsbedingten) Anstiegs der Beitragsbelastungen letztlich nicht zu einer Trendumkehr bei der sich aufschaukelnden Arbeitslosigkeit beitragen. Auch auf mittlere Sicht wird ein Ausgleich am Arbeitsmarkt durch ein Mehr an Beschäftigung kaum erreichbar sein, weil für (potenzielle) Arbeitgeber bei der gegebenen Höhe der gesamten Arbeitskosten neue Arbeitsplätze (insbesondere für Geringqualifizierte) am Standort Deutschland vielfach nicht mehr lohnend sind. Der zunehmende weltwirtschaftliche Wettbewerbsdruck und die Entfaltung produktiver Wertschöpfungsprozesse in den EU-Erweiterungsländern dürften den restriktiven Einfluss der Arbeitskosten auf die Beschäftigungsentwicklung noch verstärken.Die Politik der Reform des Sozialstaats mit dem Ziel einer Begrenzung des Anstiegs der Lohn- und Lohnnebenkosten wird daher auf jeden Fall fortgesetzt werden müssen, wenn auf absehbare Zeit wieder eine (auch die Sozialpolitik) befreiende Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung erreicht werden soll.Bei der Verbreitung einer Krisendiagnose und grundsätzlicher Bejahung eines Reformbedarfs wird meist die offenbar geringe Akzeptanz für die ersten konkreten Schritte des Einstiegs in die Sozialstaatsreform mit Verwunderung aufgenommen. Verständlich wird der konkrete Widerstand innerhalb der großen Volksparteien, bei den sozialen Interessenverbänden und bei den Wählern, wenn man die Reformdebatte mit dem Instrumentarium ökonomischer Theorie der politischen Willensbildung analysiert und berücksichtigt, dass alle Akteure in der Debatte eigennützige Strategien verfolgen, im Vorfeld der Gesetzgebung keine Einbuße an vermeintlichen Besitzständen hinnehmen wollen und somit letztlich keine Reformdebatte sondern eine Reformblockade bestreiten. Verständlich wird die geringe Akzeptanz für konkrete Reformschritte aber auch durch eine offensichtliche Diskrepanz zwischen der Sozialstaatsidee im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft und dem Verständnis und den Erwartungen der Bürger an den Sozialstaat. In der bisherigen Reformdebatte wird der freiheitlich subsidiäre Sozialstaat mit seinen gewachsenen hohen Leistungsstandards nicht als (anpassungsfähiges) System von solidarischen Sicherungsinstitutionen gesehen, sondern vordergründig an diesen Sicherungs- und Leistungsstandards und deren Ergebnis in den Haushaltsbudgets der Bürger beurteilt. Hier konvergieren die Bestrebungen der Politik nach langfristiger Planung, Stetigkeit und Verlässlichkeit der Sozialpolitik, die Einstufung von Anwartschaften in der Sozialversicherung als „eigentumsähnlich“ durch das Verfassungsgericht und die beständigen Beteuerungen der Sicherheit der Renten in dem Aspekt der Gleichheit von Einkommen und von Be- und Entlastungen durch die Reform. Im Sozialstaatskonzept der Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft waren Sozialpolitik und soziale Sicherheit integraler Bestandteil der Leistungsfähigkeit und Bestandssicherung einer Wettbewerbsordnung. Sozialpolitik nur als Umverteilung und politische Gestaltung der Einkommen der Bürger wäre die eigentliche Krise für die Soziale Markwirtschaft.III. Ansatzpunkte und Leitlinien einer SozialstaatsreformDie Überwindung von Reformblockaden kann nur von der souverän wahrgenommenen Handlungskompetenz einer einigen Bundestagsmehrheit und der Richtlinienkompetenz des Kanzlers erreicht werden. Dabei könnten auch weitergehende Reformen am Beginn einer Wahlperiode allmählich die Zustimmung der Wähler erreichen, wenn sie nicht nur als aktuelles Krisenmanagement zu Lasten der Bürger erscheinen, sondern ein Konzept eines leistungsfähigen und verlässlichen Sozialstaates am Ende des Reformprozesses erkennen lassen sowie einen Weg vom Status quo in den zukünftigen Sozialstaat verdeutlichen. Zunächst sollten sich wenigstens einige Meinungsführer in den Parteien, in den Verbänden der Sozialpartner und insbesondere in den Medien gewinnen lassen, die bis zum Eintritt der Verbesserung in der Breite eine solche Vorstellung von einer Renaissance des Sozialstaats tragen, der zu einer neuen Wachstumsdynamik der Deutschland AG beitragen kann. Der Sozialstaat sorgt nicht nur für Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit. Sozialpolitik ist nicht nur Umverteilungspolitik, die dem klassischen Trade-off von ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit unterliegt. Sozialpolitik und Sozialreformen können die Leistungsfähigkeit einer Marktwirtschaft unmittelbar steigern. Mit den Institutionen der intertemporalen Einkommensumverteilung kann bei Unvollkommenheit von Kapitalmärkten und Versagen von Versicherungsmärkten Unsicherheit reduziert werden. Die materielle Freiheit der Bürger kann verbessert und Chancengerechtigkeit durch Gestaltung der Anfangsausstattungen und des Zugangs der Bürger zu den Märkten gefördert werden, damit sich auch wirklich alle Leistungs- und Wertschöpfungspotenziale in der Wettbewerbsordnung und Marktwirtschaft entfalten können.Beim gegenwärtigen Einstieg in Reformen der Sozialpolitik wird die Verantwortung des einzelnen zwar wieder stärker betont (um vermehrte Eigenbeteiligung und Kostenübernahme zu rechtfertigen), aber ohne durchgängig die Förderung und Forderung der individuellen Handlungskompetenz als Triebkraft einer neuen Entwicklungsdynamik zu nutzen.Ökonomen haben das Konzept des freiheitlichen, in die Wettbewerbsordnung integrierten Sozialstaats an verschiedenen Stellen begründet. Die neue ökonomische Theorie der Sozialpolitik setzt mit der Anwendung der Idee des Gesellschaftsvertrages von freien und gleichen mündigen Bürgern voll auf diese Bedeutung für das System der „Sozialen Marktwirtschaft“, durch die auch die Blockaden der Sozialstaatsreform überwunden werden können. Allerdings wird eine solche ökonomisch fundierte Reformpolitik am ökonomischen Paradigma des eigennützigen Verhaltens der Menschen festhalten. Die Ausgestaltung sozialstaatlicher Institutionen wird daher stärker unter dem Gesichtspunkt der richtigen ökonomischen Anreize beurteilt. Dass sich auch die Zielgruppen der Sozialpolitik eigennützig verhalten, lässt sich durchaus nicht nur einer ideologischen Vorstellung des Neoliberalismus zuschreiben. Die Entwicklung sozialer Leistungen hat die empirische Relevanz von Mitnahmeeffekten über den Verbleib in Hilfen („Hilfefalle“), Moral Hazard, opportunistisches Verhalten bis zum (illegalen) Missbrauch solidarisch getragener Leistungen vielfach bestätigt. Daher würden Reformen des Sozialstaates heute auf Steuerung durch ökonomische Anreize setzen, wo die Väter der Sozialen Marktwirtschaft noch auf die Begrenzung des Eigennutzes durch christliche Moral oder durch die Solidarität der Arbeitnehmerschaft vertraut hatten.Eine unabhängige Gruppe von Sozialpolitikwissenschaftlern hat im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative Soziale Marktwirtschaft der Bertelsmann Stiftung, Heinz Nixdorf Stiftung und Ludwig-Erhard-Stiftung ein Konzept für eine umfassende Sozialstaatsreform vorgelegt. Mit der Idee des Sozialvertrags, der von den (eigennützigen) Mitgliedern einer Gesellschaft hinter dem Schleier der Ungewissheit (Veil of Ignorance) über ihre tatsächliche Situation vereinbart wird, kann ein überraschend weitgehendes Maß an Sozialstaatlichkeit begründet werden. Die Leitlinien einer solchen ökonomisch effizienten Ausgestaltung des Sozialstaats beruhen wie die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft auf der individuellen Handlungskompetenz der Bürger der Zivilgesellschaft, dem Grundsatz der Rechts- und Planungssicherheit und der Subsidiarität staatlichen Handelns. Ein solches Konzept kann mit Transparenz, Effektivität und Effizienz das von der Gesellschaft erwünschte Maß an außermarktlichen (nachhaltigen und stabilen) Institutionen der Sicherheit bereitstellen sowie über Chancengerechtigkeit und subsidiäre Sicherung des Existenzminimums (Sozialhilfe) Verteilungsgerechtigkeit verwirklichen. Ein solches Gesamtkonzept und die Vorschläge zur Gestaltung einzelner Aufgaben des „neuen“ Sozialstaats im Bereich der Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe, der Alters-, Kranken- und Pflegeversicherung könnten (auch wenn sie zunächst von dem historisch Gewachsenen weitgehend abweichen) als Grundlage für eine konzeptionelle Debatte um die weiteren Reformen des Sozialstaates dienen.
Lexikon der Economics. 2013.